Montag, März 27, 2017

ABENDLAND

Der Wasserschlauch lag im Pool und pumpte ständig frisches Wasser hinein. Ich dachte an die hin und wieder auftretende Wassernot in den Sommermonaten im nördlichen Italien, drehte den Wasserhahn ab und nahm den Schlauch aus dem Pool. Später, beim gemeinsamen Abendessen - die blonde Staatsanwältin hatte Pizzen für die gesamte Gesellschaft geholt - fragte er mich, ob ich das Wasser abgedreht hätte. Ich weiß bis heute nicht, wie sein Nicken gemeint war. Später trank man noch Grappa und er gab eine sehr amüsante Hitler-Parodie zum Besten. Am selben späten Abend war es, wenn ich mich recht entsinne, dass er mir den Schlüsselbund zu seinem Anwesen übergab und mich bat, die Türen abzuschließen, wenn alle gegangen wären. Er war müde und zog sich in seine Schlafgemächer im oberen Stock zurück. Unten ging die Party bei bestem Rotwein, wunderbaren Gesprächen und schönen Gerüchen weiter. Ich hatte ein Gästezimmer im Erdgeschoß, das immer mit einem riesigen Lavendelstrauch bestückt war, ein kleines Badezimmer, geschmackvollst eingerichtet, ausgestattet mit Handtüchern, die mit den Initialen A.H. bestickt waren.
Eines Morgens rief er vom Balkon seines Schlafzimmers in den Vorgarten: “Wissen Sie, Herr Gelbmann, ich lese gerade eine Biographie über Oscar Wilde.”, was ich wiederum mit einem Nicken kommentierte, denn was sollte ich auch dazu sagen, war ich doch damit beschäftigt, eine ganze Menge Musiker so zu koordinieren, dass am Ende ein verkaufbares Album entstehen würde, ohne das Budget zu sprengen, was bei einer Ansammlung von Künstlern dieser Klasse nicht ganz einfach war.
Im Nachhinein betrachtet war es sicher ein Fehler, dass ich diese grandiosen Tage in Gardone nicht viel mehr genossen habe. Noch heute fallen mir immer wieder seinerzeitige Begegnungen ein, denen ich damals viel zu wenig Beachtung schenkte. Ein von Grandezza sprühender, kurz vor dem Ruhestand stehender Künstlermanager, der mich auf sein Segelboot einlud, um sich dafür zu bedanken, dass ich das Projekt und somit soweit auch seinen Künstler im Griff hatte. Völlig überdrehte  Besprechungen im Pool, alle nackt außer mir (man hatte mir auf meine Bitte hin eine Badehose gebracht), bekiffte Nächte im Grand Hotel Gardone am Ufer des Gardasee und lange Fußmärsche zurück ins Zimmer durch die endlosen Gänge, die seinerzeit schon Stefan Zweig inspiriert hatten. Spaziergänge mit ihm durch den wirklich wundersamen Garten, das Notizbuch in der Hand, um keine Idee zu verlieren, während die Koi-Karpfen einen kleinen Hinweis auf meine persönliche Zukunft andeuteten.
Zurück fuhr ich dann meist über den Brenner, und wenn ich davor Südtirol durchquerte und mir die frischen Aufnahmen anhörte, passierte es, dass ich tränenreich auf die nächste Raststätte abbiegen musste, um nicht von Emotionen übermannt einen Unfall zu veranstalten. Es waren mit Sicherheit die größten Momente meines Musikmanager-Daseins. Es gab noch keinen iPod und schon gar kein Smartphone. Es waren die letzten Jahre in einem völlig überfrachteten old-school-Tempel, die ich - bauernschlau wie ich manchmal bin - zu nutzen wusste. Es war die richtige Zeit für so ein Projekt und er war der einzige, der dem ganzen die notwendige Größe geben konnte.
Ich schrieb einmal in mein Notizbuch: “Er ist der einzige Dylan, den ich je persönlich kennengelernt habe.” Und das bringt es noch immer auf den Punkt.
Alles Gute, geschätzter, väterlicher Freund. Ich achte und verachte Dich, während ich Dich herzlichst umarme.